Verfassungsgericht veröffentlicht Urteil zum ersten Alarmzustandsgesetz vom 14.03.2020

Alarm-Verfassung-Justitia

Am späten Abend des 19.07.2021 hat das spanische Verfassungsgericht (Tribunal Constitucional TC) sein Urteil zum spanischen Alarmzustand vom 14.03.2020 veröffentlicht.

In dem Urteil hat es die Absätze 1, 3 und 5 des Artikels 7 des Königlichen Dekrets 463/2020, in dem der Alarmzustand ausgerufen wurde, um die Situation der durch Covid-19 ausgelöste Gesundheitskrise zu bewältigen, für verfassungswidrig erklärt.

Das Urteil umfasst 80 eng beschriebene A4-Seiten. Begleitet wird die Veröffentlichung des Urteils von den schriftlichen Begründungen von vier der fünf Richter, die gegen die Mehrheit des Tribunals gestimmt haben. Diese individuellen Erläuterungen der Motive, gegen die Mehrheit zu stimmen, umfassen jeweils noch einmal zwischen 7 und 16 DIN-A4-Seiten.

Die Veröffentlichung der Begründung der 5. Gegenstimme steht noch aus und wurde von der Pressestelle des Verfassungsgerichts für einen späteren Zeitpunkt angekündigt.

Allein der Umfang des Urteils zeigt, wie komplex die Fragestellung war. Für das Studium des Urteils und der Gegenstimmen sind viel Zeit, ausgezeichnete Kenntnisse des Rechtsspanisch und fundiertes juristisches Wissen erforderlich.

Das Verfassungsgericht hat das Urteil in einer ausführlichen 4-seitigen Pressemitteilung zusammengefasst. Doch auch diese ist keineswegs ein einfacher Lesestoff. Wenn man das Urteil jedoch wirklich verstehen will, muss man sich unter den oben bezeichneten Voraussetzungen durch den Originaltext durchbeißen.

Verfassungsgericht stellt Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen nicht in Frage

Schon im ersten Satz der Pressemitteilung dürften die Kritiker der von der spanischen Regierung beschlossenen Maßnahmen eine Überraschung erleben. Das TC stellt die Notwendigkeit, außerordentliche Maßnahmen zu beschließen, um der Schwere und der Tragweite der Covid-Pandemie zu begegnen, nämlich ausdrücklich nicht in Frage. Es betont sogar, dass es die Maßnahmen für notwendig, geeignet und angemessen und außerdem mit denen vergleichbar hält, die von anderen umliegenden Ländern ergriffen wurden.

Das, was in Frage gestellt wird, ist lediglich das dafür genutzte rechtliche Instrument, weil das TC der Ansicht ist, dass einige dieser [Maßnahmen], soweit sie die Aufhebung von Grundrechten beinhalten, im ausgerufenen Alarmzustand keine Deckung durch die Verfassung finden, und dass diese den Ausruf des Ausnahmezustands gerechtfertigt hätten. Wenn man nicht so strikt zwischen dem Alarmzustand und dem Ausnahmezustand unterschiede, wie von der Verfassung vorgesehen, verwandelte sich der Alarmzustand in ein Substitut für den Ausnahmezustand, ohne dass dieser der erforderlichen vorherigen Genehmigung durch das Parlament unterläge.

Aus diesen Gründen erklärt das TC die Absätze 1,3 und 5 des Artikels 7 des Königlichen Dekrets für verfassungwidrig, weil sie die Freizügigkeit und das Grundrechte zur freien Wahl des Wohnsitzes (Art. 19 Constitución Española CE) und zur friedlichen und unbewaffneten Versammlung (Art. 21.1 CE) verletzen.

Das TC beschränkt sich darauf festzustellen, dass die außerordentlichen Beschneidungen der Freizügigkeit, der freien Wohnsitzwahl und der Versammlungsfreiheit, die der Artikel 7 auferlegt, den Umfang, den der Artikel 116.1 der Verfassung […] dem Alarmzustand zubilligt, überschreiten, obwohl diese auf den Schutz von verfassungsrelevanten Gütern und Interessen abzielten und an die Empfehlungen der WHO angepasst waren.

Mit einfachen Worten zusammengefasst: Die Maßnahmen wären in Ordnung gegangen, wenn die Regierung statt des Alarmzustands den Ausnahmezustand ausgerufen hätte. Der Ausnahmezustand muss jedoch vorher vom Parlament genehmigt werden und kann maximal 30 Tage dauern und um weitere 30 Tage verlängert werden. Der Alarmzustand muss nachträglich vom Parlament gebilligt werden.

Uneinigkeit zwischen den Verfassungsrichtern

Das Urteil der Verfassungsrichter basiert keinesfalls auf einem Konsens. Mit 6 zu 5 Stimmen ist es sogar ausgesprochen knapp ausgefallen.

Die wichtigste Uneinigkeit besteht bezüglich der Definition der Wörter „suspensión“ und „limitación“ von Grundrechten. „Suspensión“ lässt sich am besten mit „Aufhebung“ übersetzen. „Limitación“ bedeutet dagegen „Einschränkung“.

Die Verfassung erlaubt ausdrücklich die „limitación“ des Grundrechts auf Freizügigkeit in einem Alarmzustand. Außerdem ist der Alarmzustand ausdrücklich in der Verfassung als Reaktion auf einen Gesundheitsnotstand durch eine Seuche vorgesehen.

Nach der bereits bekannt gemachten Auffassung von 4 Verfassungsrichtern waren die Grundrechte nicht aufgehoben, sondern tatsächlich nur eingeschränkt.

Ein Verfassungsrichter argumentiert, dass der Ausnahmezustand gar nicht für einen Pandemiefall vorgesehen sei, sondern für bewaffnete Aufstände (Putsch, Staatsstreich). Außerdem hätte ein Ausnahmezustand, der ja nur für maximal 60 Tage hätte gelten dürfen, der Bevölkerung die falsche Illusion gegeben, dass die Pandemie nach zwei Monaten vorbei sein würde.

Folgen des Urteils

Das Urteil zeigt, dass die Spanische Verfassung nicht ausreichend auf die Notwendigkeiten einer Pandemie vorbereitet ist. Obwohl die Richter die Maßnahmen für notwendig, geeignet und verhältnismäßig erachteten, konnten sie diese nicht verfassungskonform in den Alarmzustand einordnen, der laut Verfassung eigentlich genau für den Pandemiefall vorgesehen ist, und mussten somit die Verfassungswidrigkeit feststellen.

Fraglich ist, wie eine spanische Regierung dann auf eine zukünftige Pandemie oder ein erneutes Aufkeimen der gegenwärtigen angemessen reagieren kann, um ebenfalls von der Verfassung geschützte Güter wie das Recht auf körperliche Unversehrtheit und den Schutz der Gesundheit zu garantieren.

Was ist mit Bußgeld- und Strafverfahren im Zusammenhang mit Verstößen gegen das „confinamiento“?

Im Zusammenhang mit der Verletzung der Vorschriften bezüglich der Ausgangssperre („confinamiento“), die das TC nun für verfassungswidrig erklärt hat, wurden hunterdtausende von Busgeldverfahren und auch einige Strafverfahren eingeleitet.

Was passiert nun mit den eingeleiteten Verfahren? Was ist mit Bußgeldern, die bereits bezahlt wurden?

Nach Auffassung einiger Juristen lässt das Urteil des TC viel Interpretationsspielraum.

Es gibt mindestens drei mögliche Situationen:

  1. Ein Bußgeld- oder Strafverfahren ist noch nicht abgeschlossen. In diesem Fall müssten die Verfahren eingestellt werden.
  2. Das Bußgeldverfahren wurde abgeschlossen, ohne dass gegen die Bußgeldfestsetzung vor dem Verwaltungsgericht geklagt wurde. In diesem Fall müsste der Betroffene eine Revision des Urteils von Amts wegen beantragen.
  3. Gegen den Bußgeldbescheid wurde ein Gerichtsverfahren angestrengt, das mit einem rechtskräftigen Urteil abgeschlossen wurde. In diesem Fall bestimmt Artikel 40.1 des Verfassungsgerichtsgesetzes, dass es gegen rechtskräftige Urteile grundsätzlich keine Möglichkeit zur Revision gibt, auch wenn die Urteile auf Vorschriften basieren, die für verfassungswidrig erklärt wurden. Gerade im Zusammenhang mit Bußgeldern gibt es allerdings Ausnahmen von diesem Grundsatz, sodass man sich im Einzelfall mit einem Rechtsanwalt für Verwaltungsrecht beraten sollte.

Das TC stellt klar, dass das Urteil allein keine Rechtsgrundlage sei, um darauf Schadenersatzansprüche gegen die öffentliche Verwaltung zu begründen. Auch in solchen Fällen müsste jeder mögliche Anspruch im Einzelfall geprüft und ggfs. eingeklagt werden.

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